Der Waldzwerg fliegt

von Tilman Bechthold-Hengelhaupt

Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0. Siehe auch: Einführung und Vorschläge zum kreativen Weiterdenken und -malen.

Diese Geschichte gibt es auch in diesen beiden Formaten:

Der Waldzwerg will fliegen lernen

An einem schönen Sommermorgen wachte der Waldzwerg in seinem Baumhaus im Märchen­wald auf. Er schaute aus dem Fenster, schob einige Zweige zur Seite und freute sich an dem Gesang und Zwitschern der Vögel, die in den Ästen saßen. Der ganze Wald war erfüllt vom leisen Gesumme der Bienen, und in dem grünen Morgenlicht, das zwischen den Bäumen schimmerte, sah er einige Libellen und Wespen, Mücken und andere kleine Tiere umher­schwirren. Am Nachbarbaum klopfte ein Specht und grüßte den Waldzwerg, als er ihn sah.

„Alle diese Tiere können fliegen. Ach, wenn ich doch auch fliegen könnte!“ rief er aus, um sich dann seinen Morgentee zu kochen, aus den Kräutern, die er zusammen mit dem Eichhörn­chen, seinem besten Freund, am Tag zuvor gesammelt hatte. Da kam das Eichhörnchen auch schon durch die weit geöffnete Tür gesprungen. Es hatte die letzten Worte des Waldzwergs gehört und gab sogleich eine stolze Antwort zum Besten: „Ich kann fliegen. Das ist gar nicht so schwer. Soll ich es dir beibringen?“ fragte es, indem es sich freundlich verbeugte.

„Na, ich weiß nicht, liebes Eichhörnchen“, antwortete der Waldzwerg und lachte, „fliegen würde ich das vielleicht nicht nennen. Du springst sehr geschickt von Baum zu Baum, aber du kannst nicht wirklich fliegen!“

Das Eichhörnchen war zuerst etwas enttäuscht.

„Ich komme sehr gut voran“, sagte es, „aber wenn du wirklich fliegen willst, dann müssen wir zum Zauberer gehen. Der Zauberer hat sicher gute Ideen. Er hat mir schon ein paar Mal er­zählt, dass er weiß, wie man fliegen kann. Und einmal habe ich auch schon gesehen, wie der Zauberer mit der Hexe um die Wette flog. Das ist nämlich sehr schwierig – ich kann das nicht.“

Weil der Waldzwerg nichts anderes vorhatte, machten sich die beiden auf den Weg. Sie wan­derten fröhlich durch den Zauberwald und grüßten unterwegs den alten Dachs. „Wo geht ihr denn hin?“ fragte der Dachs, während das Eichhörnchen gerade ein paar Beeren sammelte und der Waldzwerg einige Blumen vom Wegrand pflückte, die er der Prinzessin mitbringen wollte.

„Ach“ sagte der Waldzwerg, „wir gehen nur so herum.“

„Und wir wollen fliegen!“ rief das Eichhörnchen übermütig.

„Pst, pst, willst du wohl ruhig sein!“ sagte der Waldzwerg etwas ärgerlich, „das ist doch völliger Quatsch! Das Eichhörnchen meint es gar nicht so – natürlich können wir nicht fliegen, und wir wollen es auch gar nicht versuchen!“

„Aber warum?“, sagte das Eichhörnchen, „der Zauberer weiß doch so viele Tricks, und er kennt die tollsten Zaubersprüche. Das wäre doch gelacht, wenn er in seinem großen alten Buch keinen Zaubertrank fände, mit dem wir fliegen könnten! Und schließlich sind wir seine besten Freunde!“

„Das Eichhörnchen redet viel, wenn der Tag lang ist“, versuchte der Waldzwerg den alten Dachs zu beruhigen. Aber der hatte schon längst die Ohren gespitzt:

„So, so“, meinte er, „das klingt ja hoch interessant!“

Ein kleines Reh war dazugekommen. Es war eigentlich mit seinen Geschwistern unterwegs, weil es etwas Leckeres zu fressen suchte. Aber als es den Dachs mit dem Waldzwerg und dem Eichhörnchen sah, dachte es sich, dass es hier sicher etwas Interessantes zu hören gäbe. Mittlerweile hatte der Waldzwerg das Eichhörnchen am Fell gepackt und stopfte es einfach in seinen Rucksack, so dass nur noch sein buschiger Schweif herausschaute. Er war nämlich ziemlich ärgerlich, weil er genau wusste, der Zauberer würde es überhaupt nicht lustig finden, wenn mit einem Mal hundert Tiere vor seiner Hütte stünden, die alle etwas von seinem Zau­bertrank abbekommen wollten. Der Zauberer mochte es nicht, wenn alle über ihn redeten, und der Waldzwerg fürchtete schon, dass auch er dann nichts von dem Zaubertrank abbekommen würde.

Während sie so geredet hatten, war der Zwerg Alberich herangekommen. Er strich in Beglei­tung eines zottigen Wildschweins durch den Wald und suchte nach einer Gelegenheit für neue Streiche. Der Zwerg Alberich und der Waldzwerg waren keine Freunde, und als der Zwerg Alberich den Waldzwerg neben dem kleinen Reh und dem alten Dachs erblickte, da dachte er sich:

„Ich muss doch wissen, was da vor sich geht!“

Das Wildschwein wollte einfach nach leckeren Eicheln suchen, aber man war nicht überall froh, wenn es den Boden durchpflügte. Deswegen suchte es einen Platz, wo ihm niemand in die Quere käme. Das Wildschwein hatte sich gerne dem Zwerg Alberich angeschlossen. Die beiden kannten sich von einigen lustigen Streifzügen durch den Zauberwald. Vielleicht könnten sie heute auch wieder etwas aushecken!

Als der Zwerg Alberich sah, dass der Waldzwerg von all den Tieren umringt war, dachte er:

„Hier ist etwas los!“

Der Waldzwerg war schon dabei, zügig weiterzugehen. Als er noch einmal über die Schulter blickte, da sah er, dass nicht nur die Tiere ihm nachblickten, sondern auch der Zwerg Alberich. Das würde nichts Gutes bedeuten! Der Waldzwerg sah Ärger kommen. Er flüsterte dem Eich­hörnchen zu:

„Weißt du noch, wie ich kürzlich dem Zwerg Alberich seine Tarnkappe weggenommen und gegen eine normale Kappe vertauscht habe? Er dachte, er sei unsichtbar, als er den Elfen ihre Haarbänder klauen wollte, aber er hatte die falsche Kappe auf. Die Elfen sahen ihn kommen und besprühten ihn mit einem ekligen Duftwasser, dessen Gestank tagelang nicht verflog. Alle Tiere im Wald lachten ihn damals aus.“

Der Zwerg Alberich besaß nämlich eine Tarnkappe, mit der er sich unsichtbar machen konnte. Diesen Streich hatte er sicher nicht vergessen!

Der Zwerg Alberich fragte auch gleich das Reh:

„Liebes Reh, du bist doch so klug, du weißt immer, was gerade so los ist im Wald.“ Er ahnte, dass er dem Waldzwerg die Schmach heimzahlen konnte. Was hatte der Waldzwerg nur vor?

„Aber sicher“, rief das Reh, weil es sich freute, so gelobt zu werden. „Stell dir vor, der Wald­zwerg geht zum Zauberer – sie wollen dort fliegen!“

„Ach was“, sagte der Zwerg Alberich, „was du nicht sagst! Da wollen wir doch alle mitgehen!“

Er ahnte nämlich, dass der Zauberer überhaupt nicht erfreut wäre, wenn mit einem Mal der halbe Wald fliegen lernen wollte. Dann wäre es aus mit der Flugstunde des Waldzwergs! Der Zwerg Alberich freute sich diebisch darauf, dem Waldzwerg einen kleinen Streich spielen zu können.

Fünf kleine Mäuse waren inzwischen herangekommen, weil sie dachten, dass es hier ein Fest gibt, und auch drei Kaninchen, denen der Sinn nach frischen Kohlblättern stand. Nach einem ausgiebigen Palaver bildeten sie eine ganze Karawane, einen lustigen Zug, der sich durch den Wald in Richtung der Hütte des Zauberers bewegte.

“Eigentlich wollte ich immer schon einmal fliegen“, sagte das älteste Kaninchen, „aber bisher war es mir einfach zu gefährlich“.

Der Waldzwerg besucht den Zauberer

Inzwischen war der Waldzwerg mit dem Eichhörnchen im Rucksack durch den Wald gewan­dert. Und er war vor der Hütte des Zauberers angekommen. Das Eichhörnchen hatte er wieder aus dem Rucksack befreit. Es schimpfte furchtbar, und die beiden stritten eine Weile. Aber schließlich verstand das Eichhörnchen: Wenn die Tiere alle mitfliegen wollten, dann würde der Zauberer niemandem etwas von seinem Zaubertrank anbieten.

„Wir werden sie schon wegschicken“, sagte der Waldzwerg. Der Zauberer saß vor seiner Hütte und war gerade dabei, Pilze klein zu schneiden.

„Hallo, Zauberer“, sagte der Waldzwerg, „was sind denn das für komische Pilze, die du da hast?“

„Ich probiere gerade einen neuen Zaubertrank aus“, sagte der Zauberer. “Da gehören grüne Morchlinge hinein und der Hut eines gemeinen Schneckenfußes.“

„Schneckenfuß?“ sagte das Eichhörnchen, das inzwischen wieder auf der Schulter des Wald­zwergs saß.

„So heißt ein Pilz, den man für meinen neuen Zaubertrank verwenden muss“, murmelte der Zauberer geheimnisvoll.

„Und was kann man mit diesem Zaubertrank machen?“

„Man kann durch Wände hindurchschauen“, sagte der Zauberer, „das sagt jedenfalls mein altes Zauberbuch.“

„Das brauchen wir nicht“, entgegnete der Waldzwerg, „wir wollen fliegen!“

„Fliegen ist schwierig“, erwiderte der Zauberer. „Einfach ist es, von oben nach unten zu fliegen – bloß hat man dann ein Problem, wenn man wieder landet. Aber wenn du von unten nach oben fliegen willst, dann ist es dann das Beste, du bist ein Vogel!“

„Leider bin ich kein Vogel“, sagte der Waldzwerg, „und auch das Eichhörnchen kann immer nur von Baum zu Baum springen. Aber wir dachten, dass in deinem tollen Zauberbuch viel­leicht auch etwas über das Fliegen steht!“

„Mhm…“ meinte der Zauberer, „da muss ich einmal nachsehen!“

Und er holte aus seiner Hütte ein riesengroßes, dickes und sehr alt aussehendes Buch mit einem Einband aus verwittertem Leder. Auf dem Einband war eine rote Schlange gemalt, die sich um einen grünen Stab schlängelte. Im Maul trug sie einen goldenen Zweig. Niemand wusste, was das bedeuten sollte. Wenn der Zauberer die Bedeutung dieser Zeichnung kannte, dann ließ er doch niemanden an diesem Wissen teilhaben. Der Zauberer liebte sein Zauber­buch über alles.

„Jetzt wollen wir doch einmal schauen, ob mein altes schönes Buch uns weiterhilft“, sagte er und blätterte bedächtig die Seiten um, die mit uralten Schriftzeichen, aber auch mit eigenarti­gen Zeichnungen bedeckt waren.

„Und hier – tatsächlich!“, rief er aus, „’Der Trank des Fliegens’. Das ist es, was wir suchen! Wenn man diesen Trank getrunken hat, kann man eine ganze Weile lang fliegen. Aber man muss auch wieder landen können, das geht nicht so einfach. Dafür braucht man einen Zau­berring.“

„Hab’ ich!“, rief der Waldzwerg erfreut aus, „ein Zauberring ist kein Problem!“

Und er zeigte dem Zauberer seinen kleinen, silbernen Ring, auf dem ein Rubin schimmerte. Der Waldzwerg konnte ja nicht besonders gut zaubern, aber hin und wieder gelang ihm doch ein gutes Kunststück, und darum hatte er vor undenklichen Zeiten von einer klugen Elfe in im fernen Elfenwald diesen Ring geschenkt bekommen.

„Und ich?“, rief das Eichhörnchen aufgeregt, „ich habe keinen solchen Ring. Was soll ich denn dann machen? Ich wollte doch auch so gerne fliegen!“

Der Zauberer runzelte die Stirn.

„Mal sehen, was ich machen kann“, meinte er und kramte in einer Schublade seines Tisches, die mit allerlei Krimskrams gefüllt war: Da gab es kleine und große Ringe, Amulette aus Elfen­bein, bunte Vogelfedern und rostige Sprungfedern, Schrauben, Messer, manche Postkarte, die der Zauberer aus fernen Ländern von anderen Zauberern erhalten hatte…

„Da, jetzt hab’ ich, was ich suche!“, rief der Zauberer erfreut aus und holte einen kleinen Ring hervor, der mit blauen und roten Steinchen verziert war, „der müsste dir passen, liebes Eich­hörnchen!“

Das Eichhörnchen probierte den Ring gleich an und war begeistert.

„Er passt wie für mich gemacht“, sagte es glücklich.

„Gut“, sagte der Zauberer, „denn diesen Zauberring, den muss man zweimal nach links dre­hen, dann kommt man wieder auf die Erde. Und man muss sehr aufpassen, dass man recht­zeitig landet, denn wenn der Zaubertrank seine Wirkung verliert, dann geht es ganz schnell abwärts. Da kann man böse abstürzen – da hat sich schon mancher den Knöchel verstaucht! Nun, so viele dann doch nicht, denn dieser Zaubertrank ist eigentlich recht unbekannt.“

„Wir passen auf!“ versprach der Waldzwerg; „und wo ist jetzt der Zaubertrank?“

„Eile mit Weile“ lächelte der Zauberer, „zuerst einmal müssen wir den Zaubertrank zusammen­brauen. Da gilt es einiges zu sammeln. Hier, meinen Schneckenfußpilz, den könnt ihr gleich verwenden. Aber dann braucht ihr noch Nieswurz, Huflattich und Rosmarin und Borsten eines Wildschweins.“

„Na, diese komischen Dinge werden wir aber leicht finden“, rief das Eichhörnchen zuversicht­lich.

„Nein, nein – wartet doch!“, sagte der Zauberer, „das ist noch nicht alles. Wir brauchen noch ein frisches Schwanenei. Und wenn ihr das alles habt, dann sehen wir weiter.“

„Oh weh!“, rief der Waldzwerg, „da haben wir ja einiges zu tun. Los, Eichhörnchen, wir fangen mit den Kräutern an!“

Der Waldzwerg und das Eichhörnchen suchen nach den Zutaten für den Zaubertrank

Als sie in den Zauberwald zurückgehen wollten, sahen sie, dass zwischen den Bäumen das kleine Reh und die Hasen hervorlugten. „Verschwindet, hier gibt es nichts für euch!“ rief der Waldzwerg. Aber die Tiere kümmerten sich darum nicht. Jetzt gab es ja wirklich auch noch nichts für sie. Aber man weiß ja, wie geduldig Rehe sind…

Bald hatten der Waldzwerg schöne, große Huflattichblätter gefunden.

„Mit dem Nieswurz, da kennt sich vielleicht der freundliche Eichelhäher aus“, schlug das Eich­hörnchen vor „der wird sicher auch nicht neidisch, wenn er hört, dass wir fliegen lernen.“

Die beiden Freunde gingen zu der Anhöhe, auf der der Lieblingsbaum des Eichelhähers stand. Und tatsächlich, er war bereit, den beiden zu helfen.

„Jetzt kommt der schwierigste Teil, nämlich die Wildschweinborsten. Vielleicht finden wir wel­che auf dem Boden“, meinte das Eichhörnchen zaghaft.

„Da können wir lange suchen“, sagte der Waldzwerg. „Wir müssen die Borsten schon einem richtigen lebenden Wildschwein abnehmen.“

„Na gut“, sagte das Eichhörnchen, „kein Problem für uns! Aber erst einmal brauche ich ein paar deftige Nüsse, denn ich habe Hunger.“

Es gab in der Nähe auch einen schönen Walnussbaum, und da tat sich das Eichhörnchen gütlich, während der Waldzwerg einen Apfel aß und dabei nachdachte.

„Ein Wildschwein – wir könnten auf Spuren achten. Aber am besten ist es, wir fragen die kluge Eule, die weiß immer, wer sich gerade im Wald tummelt. Sie wird uns sicher gerne bei der Suche nach dem Wildschwein unterstützen. Aber sie wird erst heute Abend wieder wach. Bis dahin suchen wir ein Schwanennest. Komm mit, Eichhörnchen! Der Fluss ist ganz in der Nähe.“

Aber als sie unterwegs waren, kamen dem Eichhörnchen Bedenken.

„Was ist, wenn der Schwan uns seine Eier nicht geben möchte?“

„Eigentlich hast du Recht“, sagte der Waldzwerg, „da habe ich gar kein gutes Gefühl. Und selbst wenn wir sie stehlen – der Schwan braucht seine Eier ja, sonst hat er keine Küken! Wir müssen noch einmal zum Zauberer gehen und das mit ihm besprechen!“

Aber da waren sie schon am Fluss. Das Eichhörnchen zeigte aufgeregt zu einem Nest, auf dem der Schwan saß. Die Frau des Schwans lief in der Nähe am Flussufer herum und suchte nach Fressen.

„Wir müssen nur den Schwan von seinem Nest locken,“ rief das Eichhörnchen, das manchmal sehr mutige Vorschläge machen konnte, „dann kommen wir sogleich an das Schwanenei heran.“

Dem Waldzwerg war ziemlich mulmig zumute. Aber das Eichhörnchen war schon um das Nest herumgegangen, so dass der Schwan es nicht sehen konnte, stellte sich ans Ufer, stocherte mit einem Stock, den es in seinen Pfoten hielt, zwischen den Ufersteinen und rief plötzlich ganz laut:

„Schaut mal hier, ein goldenes Ei!“

Der Schwan äugte hin, aber er konnte sich nicht entschließen, sein Nest zu verlassen.

„Der ist klüger, als du denkst“, sagte der Waldzwerg.

„Mir fällt sicher etwas anderes ein“,

sagte das Eichhörnchen, und es rannte zu der Schwanenfrau, nahm ein Steinchen und warf es auf sie. Da drehte sich aber die Schwanenfrau um und kam fauchend und mit ausgebreite­ten Flügeln auf das Eichhörnchen zu, und auch der Schwan verließ sein Nest und kam eben­falls mit ausgebreiteten Flügeln und mit wütendem Zischen auf das Eichhörnchen zugestürmt. Dieses versuchte sich mit großen Sprüngen in Sicherheit zu bringen. Jetzt war das Nest frei. Der Waldzwerg konnte sich nicht entscheiden, was er tun sollte. Die Schwäne sahen nicht so aus, als ob sie mit sich spaßen ließen. Er machte ein paar zaghafte Schritte in Richtung des Nestes, aber da kam schon der Schwan auf ihn zugestürmt, und jetzt war sein Fauchen so laut und kriegerisch, dass der Waldzwerg die Beine in die Hand nahm und vom Ufer weg­rannte.

„Soll doch das Eichhörnchen selber die Suppe auslöffeln, die es sich eingebrockt hat!“, dachte er sich.

In großen Sprüngen machte sich das Eichhörnchen davon. Aber die Schwäne waren auch sehr schnell. Das Eichhörnchen sah eine hohe Eiche, seinen beliebtesten Fluchtweg, schon vor sich. Hoch auf den Baum, so schnell es ging und im Geäst versteckt! Aber bevor es die rettenden Zweige erreicht hatte, war auch schon der Schwan herangekommen, verpasste ihm einige scharfe Schnabelhiebe und zog sich gleich wieder schützend auf sein Nest zurück, während die Schwanenfrau schnatternd hinter dem Eichhörnchen herrannte, das nun aber inzwischen den Baum erreicht hatte und, so schnell es überhaupt nur konnte, den Stamm hinaufkletterte.

Das Eichhörnchen musste zunächst einmal seine Beule auf dem Kopf pflegen, die es von dem Zorn des Schwans davongetragen hatte. Traurig hüpfte es von Baum zu Baum und suchte den Waldzwerg.

„Aus dem Schwanenei wird wohl nichts!“ meinte es traurig und etwas mutlos, als sie beieinan­dersaßen.

„Der Zauberer wird sicher eine andere Idee für uns haben“, versuchte der Waldzwerg seinen kleinen Freund aufzumuntern, denn er wollte nicht so schnell aufgeben: Zu groß war sein Wunsch, endlich einmal selbst fliegen zu können. Schließlich gelang es ihm, das Eichhörnchen zu überzeugen.

„Die Wildschweinborsten fehlen doch jetzt noch“, sagte das Eichhörnchen nun mit frischem Mut, „ohne die können wir nicht zum Zauberer zurückkehren.“

„Wir folgen einfach den Wildschweinspuren, die hier überall im Boden sind“, schlug der Wald­zwerg vor.

Wie wunderten sie sich, als sie bemerkten, dass die Spuren alle wieder zurückführten in Rich­tung der Lichtung, auf der die Hütte des Zauberers lag!

„Na so was“, sagte der Waldzwerg, „bekommt der Zauberer heute Besuch von einem Wild­schwein?“

Vorsichtig und auf Zehenspitzen näherten sie sich der Lichtung; sie hielten sich abseits des Weges in den Gebüschen. Da sahen sie, dass sich das Wildschwein und der Zwerg Alberich hinter einem anderen Gebüsch versteckten und angestrengt zur Lichtung und zur Hütte des Zauberers hin spähten. Was wollten die beiden dort? Wollten sie den Zauberer besuchen? Warum gingen sie nicht direkten Weges auf dem bequemen Pfad, der dorthin führte? Aber der Waldzwerg hatte keine Lust, lange darüber nachzudenken.

„Erst einmal holen wir uns die Wildschweinborsten“, flüsterte er dem Eichhörnchen zu, „und dann überlegen wir uns, was der Zwerg Alberich hier macht.“

„Er wird doch nicht hinter uns her sein und auch fliegen wollen? Oder ob die beiden den Zau­berer überfallen wollen? “

Ängstlich machte sich das Eichhörnchen seine Gedanken über die Pläne des Zwerges Alberich und des Wildschweins, aber dann gewann auch bei ihm die Vorfreude auf das Fliegen die Überhand, jetzt, wo die Wildschweinborsten so nahe waren, die ihnen noch für den Zau­bertrank fehlten. Heimlich folgten die beiden Freunde dem Wildschwein und dem Zwerg Alberich. Da tippte das Eichhörnchen seinem Freund auf die Schulter:

„Du, guck mal, was das Wildschwein da macht!“

Und was machte das Wildschwein? Es rieb seinen borstigen Rücken an einem Baum.

„Da brauchen wir gar nicht lange zu warten!“, flüsterte der Waldzwerg begeistert und hätte fast vergessen, dass er leise sein sollte.

Jetzt hatten sie bald alle Zutaten für den Zaubertrank beisammen! Und dann konnte es los­gehen!

„Wenn sie weitergezogen sind, gehen wir einfach hin und sammeln ein paar Borsten ein.“

„Huiii, und dann geht es ab durch die Lüfte!“ fügte das Eichhörnchen fröhlich an.

„Darauf kannst du aber Gift nehmen“, lachte der Waldzwerg leise. Und so hielten sie sich im Gebüsch versteckt, bis das Wildschwein seinen borstigen Rücken lange genug an dem Baum gekratzt hatte. Und als der Zwerg Alberich und sein dicker Freund sich wieder auf den Weg gemacht hatten, pirschten sich das Eichhörnchen und der Waldzwerg heran und sammelten die Borsten ein. Grau und hart waren sie, die das Wildschwein in der Rinde des Baumes hatte stecken lassen, als es sich dort gekratzt hatte.

„Juchhe!“, rief das Eichhörnchen, „wir haben alles!“

„Aber das Schwanenei fehlt uns noch. Und schau mal, der Zwerg Alberich will offenbar auch den Zauberer besuchen. Will er vielleicht mit seinem Freund, dem Wildschwein, unsere Pläne durchkreuzen?“

In der Tat, das Wildschwein und der Zwerg Alberich nahmen genau denselben Weg, den auch unsere Freunde im Sinne hatten.

„Wir schlagen einfach einen Bogen um sie herum“, schlug der Waldzwerg, „und wir nehmen einen ganz anderen Weg durch den Wald, dann entdecken sie uns nicht und nichts kann mehr passieren. Aber eigentlich müssten wir ja den Zauberer warnen, dass der Zwerg Alberich hierher unterwegs ist.“ Der Waldzwerg wusste, dass der Zauberer so viele Besucher nicht an seiner Hütte haben wollte.

„Ach, lass mal“, sagte das Eichhörnchen, „dann wird der Zauberer ziemlich böse, denn ich hätte überhaupt nichts erzählen dürfen von seinem tollen Zaubertrank.“

„Na gut, lass uns darangehen, den Zaubertrank zu kochen!“ sagte der Waldzwerg und rieb sich die Hände.

Unsere Freunde vergaßen gleich den Zwerg Alberich und machten sich auf den Weg durch das Dickicht, um so schnell wie möglich zum Häuschen des Zauberers zu gelangen.

Der Zaubertrank wird gekocht

Der Zauberer saß vor seinem Haus. Auf einem kleinen Tischchen hatte er sein großes altes Buch ausgebreitet und blätterte darin. Die Wipfel der großen Bäume, die um seine Hütte her­umstanden, wiegten sich sanft im Wind. Auf einem Ast saß der Rabe der Hexe und äugte misstrauisch in die Runde. Aber den Zauberer interessierte das nicht. Er versuchte, ein altes, seit Jahrhunderten vergessenes Zauberrezept zu verstehen. Als die Freunde ankamen, fragte er:

„Nun, wie steht´s? Habt ihr alles bekommen?“

„Mit dem Schwanenei hatten wir kein Glück“, sagte der Waldzwerg, „aber alles andere haben wir.“

„Dann wird es sicher auch ein Hühnerei tun“, sagte der Zauberer, aber nachdenklich fügte er an: „Wenn man ein Hühnerei statt des Schwaneneis nimmt, dann muss man einen besonderen Spruch beim Fliegen sagen, sonst wird man so leicht wie eine Feder, wird einfach davon­geweht, kann nicht mehr steuern und vielleicht auch nicht mehr landen. Den Spruch habe ich gerade in meinem Buch gefunden, und er heißt:

Schwan so weiß,

Hühnerei, nicht kalt, nicht heiß,

und der Schwan geht auf die Reise

wie eine Feder leicht und leise.“

Nachdem sie den Spruch auswendig gelernt hatten, gingen sie zusammen in den Garten hinter der Hütte. Dort pickten einige Hühner im Sand und suchten ihre Körner. Der Zauber sprach ihnen gut zu:

„Na, ihr Lieben, habt ihr schöne Eier gelegt?“

Seitdem der Zauberer einmal einen Zaubertrank, den die Hexe ihm empfohlen hatte, mit ihnen ausprobiert hatte, legten sie nur noch blaue und rote Eier. Nicht nur die Schalen waren blau oder rot, sondern auch die ganzen Eier, durch und durch. Nur das Eigelb, das glänzte in einem schillernden Lila. Den Zauberer störte das nicht. Aber weil die Eier auch noch ein wenig nach Schokolade schmeckten, gab es nicht viele Leute, die diese Eier gerne aßen.

„Ich bin gespannt, was mit dem Zaubertrank passiert, wenn wir die Eier meiner Hühner statt einem Schwanenei verwenden“, meinte der Zauberer, „aber mit dem Zauberspruch müsste alles gut gehen.“

„Nun gut“ sagte der Waldzwerg, „dann lass uns an die Arbeit gehen.“

Der Zauberer schmunzelte.

Er nahm seinen großen, glänzend kupfernen Topf, setzte ihn aufs Fenster, füllte ihn bis zur Hälfte mit frischem Wasser von dem kleinen Bach, der hinter seiner Hütte vorbeifloss, und begann dann, langsam die einzelnen Zutaten hineinzubröseln, die der Waldzwerg und das Eichhörnchen gesammelt hatten. Langsam begann der Sud zu dampfen, dann zu köcheln. Erst rührte der Zauberer selbst um, dann ließ er den Waldzwerg an den Topf, dem es großen Spaß machte, in der dunklen, würzig riechenden Brühe zu rühren. Nur dem Eichhörnchen gab der Zauberer den großen Löffel nicht in die Pfoten, weil er fürchtete, es könne in den Topf fallen.

„Was dann passieren würde, weiß ich auch nicht!“ sagte der Zauberer lächelnd. „Vielleicht würde es für immer fliegen.“

Als er nun nicht mehr am Topf zu stehen brauchte, ging der Zauberer ans Fenster und blickte nach draußen auf die Waldlichtung. Was er dort sah, gefiel ihm gar nicht.

„Holla, was machen denn all die Tiere dort?“ rief er erbost. Hinter den Büschen lugten das Reh und der Dachs hervor, und sie versteckten sich gleich wieder im Dickicht, als sie den Zauberer am Fenster der Hütte sahen. Viel mehr Vögel als sonst saßen in den Zweigen und zwitscherten aufgeregt. Da war was los! Sogleich stürzte der Zauberer vor die Hütte und verjagte die Tiere. Wen er aber nicht sah, das war der Zwerg Alberich, denn der hatte sich die Tarnkappe aufge­setzt, die ihn unsichtbar machte, eine Fähigkeit, für die ihn alle hier im Märchenwald bewun­derten, aber auch fürchteten.

Nachdem sie eine ganze Weile gerührt hatten, probierte der Zauberer den Zaubertrank, aber er nahm nur einen Fingerhut voll.

„So muss er sein!“ brummte er zufrieden.

„Jetzt kommt der wichtigste Teil“, flüsterte er dann, „ich werde zuerst die Tür und das Fenster verschließen, damit uns niemand hört.“

Wie von einer schlimmen Ahnung getrieben, wollte er nämlich verhindern, dass vielleicht doch der Zwerg Alberich im Schutz der Tarnkappe zuhören könnte. Aber der Zauberer wusste natürlich nicht, dass der Zwerg Alberich gar nicht mehr da war. Dieser hatte nämlich bemerkt, dass der Zaubertrank fertig war, und hatte sich in der Zwischenzeit wieder in den Wald zu seinem Wildschwein zurückgezogen, um dort abzuwarten, bis der Zauberer mit dem Wald­zwerg und dem Eichhörnchen die Hütte verlassen hätte.

Das Eichhörnchen übte ein paar Mal, wie der Ring an seiner Pfote zu drehen sei, dann hatte es den Dreh heraus.

„Zweimal links, einmal rechts“, murmelte es immer wieder, denn es hatte keine Lust, auf immer als Vogel zu leben. Dann füllten sie zwei Flaschen mit dem Zaubertrank und zogen munter in den Wald hinein, immer auf den Elsterberg zu, der sich am Rande des Zauberwalds erhob, dort, wo es zum Reich der sieben Riesen ging, in dem auch die Hexe ihr Domizil hatte.

Beim Märchenschloss findet die erste Flugstunde statt

Nachdem sie einen großen Bogen durch den Wald geschlagen hatten, kamen sie am Fuß des Elsterbergs an. Erst mussten sie diesen steilen Berg mit seinen dunklen Tannen erklimmen, um zu der Stelle zu gelangen, von wo man, wie der Waldzwerg glaubte, am besten fliegen konnte. Der Aufstieg war anstrengend, und der Waldzwerg kam ordentlich ins Schwitzen. Sie erreichten schließlich eine breite Lichtung, die in einen recht steilen Abhang auslief, vom dem aus man einen schönen Blick in die Ebene hatte, in der linkerhand der Zauberwald lag. Zwi­schen den Bäumen blinkte das rote Dach der Hütte des Zauberers, und mitten im Märchen­wald lockte grün und golden das mit glänzenden Ziegeln verzierte Dach des Märchen­schlosses mit seinen vielen Giebeln und mit der Dachterrasse, die mit einem bunten Mosaik geschmückt war, das tanzende Delfine und Feen zeigte. Diese konnte man freilich von hier oben aus kaum erkennen. Rechterhand, neben dem Zauberwald, begann die breite Ebene mit ihren Feldern und Gärten, und der kleine Fluss, der sich am Rande des Märchenwaldes durch die Wiesen mit ihren bunten Blumen schlängelte, glänzte in der Sonne wie ein silbernes Band.

„Ich kann es kaum erwarten!“, rief das Eichhörnchen fröhlich.

Der Waldzwerg nahm eine der Flaschen mit dem Zaubertrank und gab ihm einen halben Becher voll davon. Er selbst trank auch zwei große Schlucke und machte sich bereit. Vorsichtig schlug er mit seinen Armen durch die Luft, aber es geschah noch nichts. Einige Distelfinken, die auf einem Strauch in der Nähe saßen, wunderten sich.

„Der Waldzwerg will wohl fliegen!“, zwitscherten sie sich belustigt zu.

Aber da rief das Eichhörnchen:

„Ich werde mit einem Mal ganz leicht!“

Und schon hatte es sich in die Lüfte erhoben und ruderte eifrig mit seinen Pfötchen. Das ging auch sehr gut: Da es nun ganz leicht geworden war, nahm der erste Windstoß es schon mit sich und zog es über den Abhang hinaus in den Himmel empor.

Auch der Waldzwerg hatte inzwischen gemerkt, dass er sein Gewicht fast völlig verloren hatte und dass er nun gar nicht mehr zu rudern brauchte, um in die Luft hinaufgetragen zu werden: Der Wind zog ihn mit sich, und wenn er jetzt mit den Armen ruderte, konnte er leicht die Rich­tung bestimmen: Hinaus über die Ebene ging es, und der Waldzwerg ließ sich gerne mittragen und juchzte freudig. Ganz leicht war er geworden, und so in der Luft zu schweben und gar nicht mehr fallen zu können, das war ein neues und ganz unbeschreibliches Gefühl. Von hier oben sah alles so hübsch aus: Das Tulpenfeld, das die Prinzessin zusammen mit dem Gärtner des Märchenschlosses am Rande des Waldes angelegt hatte, leuchtete in Rot, Gelb und Orange, und der Waldzwerg erkannte jetzt erst richtig die Form, in der der Gärtner die Beete angelegt hatte: Sie hatten die Form einer Tulpe. Aber lange konnte er nicht darüber nachden­ken, denn eine kräftige Bö schleuderte ihn weit hinaus über die Ebene, und er wirbelte zuerst aufgeregt durch die Luft und sah alles um sich herum in einem wilden Taumel verschwimmen. Aber dann hatte er einen sanften Luftstrom gefunden, der ihn in einem großen Bogen über den Wald hintrug, so dass er die Wipfel der Bäume von oben erkennen konnte, wie sie sich im Winde wiegten.

Die Finken umflatterten ihn und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nicht nur der Waldzwerg, sondern auch das Eichhörnchen, beide flogen jetzt schon recht geübt über den Wald hinweg. Der Waldzwerg winkte dem Eichhörnchen zu, sie ruderten aufeinander zu und der Waldzwerg ergriff eine Pfote des Eichhörnchens, damit sie zusammen mit dem nächsten Windstoß eine Pirouette über dem Wald drehen konnten. Da bemerkte der Waldzwerg, dass er zu weit in die Höhe gewirbelt wurde: War das die Wirkung des Hühnereis? Oder lag es nur daran, dass jetzt am Nachmittag ein stärkerer Wind aufgekommen war, der die Äste durch­schüttelte und manche Blätter mit sich herumtrieb? Schnell sagte der Waldzwerg den Spruch auf, den er vom Zauberer gelernt hatte:

Schwan so weiß,

Hühnerei, nicht kalt, nicht heiß,

und der Schwan geht auf die Reise

wie eine Feder leicht und leise.

Und schon gewann er wieder gerade so viel Gewicht, dass er nicht einfach davongeweht wurde und sich gemeinsam mit dem Eichhörnchen um die Bäume drehen konnte.

Wie staunten sie aber, als sie plötzlich eine schnarrende und spöttische Stimme hörten: „Hallo, Waldzwerg, freust du dich, mich hier oben zu sehen?“

Das konnte doch nur der Zwerg Alberich sein! Wie war das möglich? Der freche Zwerg hatte es doch tatsächlich geschafft, an den Zaubertrank zu kommen. Nachdem der Zauberer seinen Trank gebraut hatte, hatte er den Rest aus dem Kupferkessel in mehrere Flaschen gefüllt, die er dann in seinem Schrank versteckte. Danach war er zum Märchenschloss gegangen, um dem König Edomar von den neuesten Ideen des Waldzwergs zu erzählen und vor allem, um von der Dachterrasse des Schlosses aus den Flug seiner beiden Freunde zu beobachten. Der Zwerg Alberich hatte, als er mit dem Wildschwein wieder zur Hütte des Zauberers zurückge­kehrt war, von einem Gebüsch aus beobachtet, wie dieser sich in Richtung des Schlosses aufgemacht hatte. Da der Zauberer seine Hütte nie verschloss, war es für den Zwerg Alberich ein Leichtes gewesen, in die Hütte einzudringen und die Flaschen zu finden. Er hatte gleich zwei mitgenommen und sich auch zum Elsterberg aufgemacht. Dabei wusste er selbst nicht, worauf er mehr Lust hatte: aufs Fliegen oder darauf, den Waldzwerg zu foppen.

Nun war er also in der Luft, und er hatte den Waldzwerg und das Eichhörnchen bald entdeckt. Dieser war gar nicht glücklich, als er den komischen Gnom entdeckt hatte. Jetzt hatte der Zwerg Alberich doch tatsächlich den Zaubertrunk ergattert! Hätte der Zauberer nicht besser aufpassen können? Oder hätte er selbst nicht besser Acht geben können, damit nicht der ganze Wald und so schließlich auch der Zwerg Alberich von seinen Flugplänen erfahren würde? Oder war es nicht das Eichhörnchen gewesen, das sich verplappert hatte? Aber ehe er weiter ins Grübeln kam, wollte er sich lieber am Fliegen erfreuen, die Aussicht genießen und schauen, was das Eichhörnchen so machte, anstatt sich die Laune vom Zwerg Alberich verderben zu lassen.

Das Eichhörnchen steuerte geradewegs auf einen Nussbaum zu, den es entdeckt hatte. Es hatte gleich Hunger bekommen und freute sich auf ein paar frisch gepflückte Walnüsse. Der Waldzwerg folgte ihm. Die beiden landeten auf der Krone des Baumes, suchten sich einen gemütlichen Platz in den Ästen und aßen gemeinsam eine kleine Zwischenmahlzeit. Dem Waldzwerg machte es besonderen Spaß, hier oben in dem luftigen Wipfel des Nussbaums sitzend seine Nüsse in der Hand zu knacken und dabei über die anderen Bäume hinweg zu schauen.

Der Zwerg Alberich bekommt Probleme in der Luft

Doch plötzlich hörte er aus der Nähe einige halb ärgerliche, halb verzweifelte Rufe, und als er sich umschaute, woher die Rufe kamen, erblickte er doch tatsächlich den Zwerg Alberich, der wild rudernd durch die Luft sauste. Sein Flug glich freilich eher dem eines Blattes, das im Wind herumgewirbelt wird, als dem eines Vogels.

Was war geschehen? Der Zwerg Alberich war herumgeflogen, aber da er ja den Zauberspruch nicht kannte, der ihn davor schützen sollte, davongetragen zu werden, wurde er nun weit in die Höhe gewirbelt und konnte nichts dagegen tun. Dem Waldzwerg tat das dann doch leid, und er ruderte mit einigen kräftigen Schlägen hoch hinauf zum Zwerg Alberich. Dort rief er diesem den Zauberspruch zu, damit er nicht ganz verloren ginge und in die weite Welt davongeweht würde.

Aber weil der Wind so stark wehte, verstand Alberich die Worte nicht richtig. Und so sagte er diesen Spruch auf:

Schwein so heiß,

Osterei, nicht blau, nicht weiß,

und das Schwein geht auf die Reise

doch zu teuer sind die Preise.

Leider hatte dieser falsche Zauberspruch gar keine Wirkung, und Alberich wehte langsam wie­der auf die Erde zu, denn steuern konnte er immer noch nicht. Aber dafür schwand jetzt lang­sam, aber sicher seine Flugkraft, und er fühlte sich offenbar ziemlich unwohl. Er kannte ja den Trick mit dem Ring nicht. Auch wenn er, wie alle Zwerge, die zaubern können, natürlich einen Zauberring trug, wusste er nicht, dass er den Ring drehen musste, um eine unsanfte Landung zu vermeiden. Obwohl der Zwerg Alberich ja nicht gerade der dickste Freund des Waldzwergs war, wollte dieser ihn doch nicht einfach auf den Boden stürzen lassen. Er hielt sich deshalb in der Nähe des Waldzwergs. Für große Erklärungen blieb keine Zeit, so rief er laut:

„Da, rechts neben dir, da ist ein Ast!“

Aber der Zwerg hatte schon die hohe Fichte entdeckt, an der er sich festhalten konnte. Mit letzter Kraft angelte er im Hinabsinken nach dem Ast, hielt sich daran fest – der Ast bog sich gefährlich nach unten, und der Waldzwerg dachte schon, der Ast würde brechen oder die Hand des Zwergen Alberich würde abrutschen, aber es gelang ihm doch im letzten Moment, sich an dem Fichtenast festzuhalten. Schnell hangelte er sich weiter vor in Richtung auf den Stamm zu, und da saß er nun, hoch oben in der Krone einer Fichte, und mit etwas jämmerlichem Gesichtsausdruck.

„Wie komme ich da jetzt wieder herunter?“, rief der Zwerg Alberich, den der Mut verließ. Flie­gen konnte er jetzt gar nicht mehr; die Kraft des Zaubertranks hatte ganz nachgelassen, denn er hatte nicht genug davon getrunken.

„Soll ich dir helfen?“, fragte der Waldzwerg. „Das kann ich nämlich schon tun, aber dann musst du mir auch versprechen, dass du mich nicht mehr so viel ärgerst!“

Die Hexe kommt und hilft dem Zwerg Alberich

Der Waldzwerg hatte schon eine Idee: Die Hexe müsste mit ihrem Besen kommen und den Zwerg Alberich von dort oben herunterholen – anders würde es nicht gehen, denn es gelänge dem Zwerg Alberich niemals, den hohen Baum hinunterzuklettern. Er klammerte sich an den Stamm und hatte seine Füße auf zwei Äste gestellt. Aber so weit oben wie er war, befand er sich an keinem guten Platz, denn die Krone der Fichte schwankte bedenklich.

„Ich werde Hilfe für dich holen“, rief der Waldzwerg, „und ich werde schauen, dass die Hexe mit ihrem Besen kommt. Aber erst einmal muss ich die Hexe finden.“

Der Waldzwerg fragte einige Vögel, die auf den Zweigen in der Nähe saßen, ob sie vielleicht den Raben der Hexe herbeiholen könnten; er habe ihm etwas Wichtiges zu sagen. Die Vögel, die den Waldzwerg alle gut leiden mochten, taten ihm gerne einen Gefallen, und sie flatterten gleich los.

Und in kurzer Zeit war der Rabe da. Schwarz glänzte sein prächtiges Gefieder. „Hallo, Wald­zwerg“, krächzte der Rabe, „lange nicht gesehen! Brauchst du meine Hilfe?“

„Eigentlich nicht“, sagte der Waldzwerg, der sich inzwischen am Fuße der Fichte hingesetzt hatte, nachdem er sanft mit Hilfe des Zauberrings auf dem Boden gelandet war, „ich habe überhaupt kein Problem. Ich habe einen wunderschönen Ausflug gemacht. Und schau mal, wen ich da fand“, sagte er und deutete nach oben in den Wipfel der Fichte.

Der Rabe war sehr erstaunt, als er da den Zwerg Alberich sah, den er gut kannte. Der Zwerg Alberich war ja eigentlich ein guter Freund der Hexe. Vor vielen Jahren hatte er der Hexe einmal bei einem Streit mit dem Zauberer geholfen – aber das ist eine andere Geschichte, die ich vielleicht ein andermal erzählen möchte.

Der Rabe wusste gleich, die Hexe würde sich darüber freuen, dem Zwerg Alberich einen Gefallen tun zu können. Offenbar war er ja in Schwierigkeiten.

„Was braucht der Gute?“, fragte der Rabe.

„Er braucht den Besen der Hexe“, erwiderte der Waldzwerg, „und zwar ziemlich bald. Die Fichte schwankt sehr stark, da oben kommt er alleine nicht herunter.“

„Aber wie ist er hochgekommen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte der Waldzwerg, der keine Lust hatte, dem Raben alles brühwarm zu berichten, was er heute erlebt hatte. Die Hexe sollte nicht unbedingt über den Zaubertrank des Zauberers Bescheid wissen. Der Zauberer sollte selbst entscheiden, wem er von seinen tollen Entdeckungen berichten wollte.

„Ich glaube, der Zwerg Alberich hat sich ganz einfach verlaufen“, sagte der Waldzwerg.

„Oha“, krächzte der Rabe, „verlaufen? Und dann ist er dabei ganz oben in einen Fichtenwipfel gera­ten?“

Die Vögel, die in der Nähe auf den Ästen saßen, fingen laut an zu lachen. Für uns Menschen hätte sich das wahrscheinlich wie ein ganz normales lautes Vogelgezwitscher angehört, aber der Rabe und der Waldzwerg verstanden gleich, dass die Vögel den Raben auslachten. Der Rabe war nämlich nicht gerade der Allerhellste, und er hatte erst jetzt verstanden, dass der Waldzwerg ihn auf den Arm genommen hatte. Eigentlich mochte er es nicht, wenn die kleinen Vögel – die Finken, Spatzen und die Kohlmeisen – über ihn lachten. Aber was sollte er tun? Er hatte ja keine Wahl als mitzulachen. Also krächzte er ein paar Mal scheppernd, und dann meinte er:

„In Ordnung, ich fliege sofort zur Hexe. Gleich wird sie da sein. Ihr Besen ist frisch geputzt, und sie war heute noch gar nicht unterwegs.“

Mit kraftvollen Schwüngen flog er davon, und nachdem der Waldzwerg gerade einmal die Zeit hatte, einen Abhang hinunter zu klettern, aus einem Bach einige Schlucke frischen Wassers zu trinken und wieder nach oben zu kraxeln, war die Hexe schon angekommen.

„Hier bin ich, lieber Waldzwerg!“, rief sie. „Der Zwerg Alberich hat sich verlaufen? Deswegen soll ich jetzt extra herkommen?“

„Ich weiß nicht, ob dein Rabe alles richtig verstanden hat“, meinte der Waldzwerg. „Guck mal, da oben ist er, dein Freund!“

„Nein, so was!“ rief die Hexe, „wie ist er denn dahin gekommen?“

„Das weiß der Geier“, sagte der Waldzwerg, „und der ist grad nicht da.“

„Du willst mich wieder auf den Arm nehmen“, meinte die Hexe leicht verstimmt. „Bitte sag mir: Wie ist der Zwerg Alberich da nach oben gekommen?“

Der Waldzwerg war sich ganz sicher, dass der Zwerg Alberich der Hexe auch nicht die ganze Geschichte erzählen würde, weil sie ihm peinlich war. Und deswegen verzichtete auch er darauf, der Hexe allzu viel vom Zaubertrank auf die Nase zu binden. Die Hexe flog nun schnurstracks mit ihrem Besen auf den Wipfel des Baumes, und der Zwerg Alberich kletterte auf ihren Besen, setzte sich hinter sie und seufzte erleichtert. Sogleich brausten die beiden ohne ein Wort des Abschieds davon. Der Waldzwerg und das Eichhörnchen aber liefen froh zur Hütte des Zauberers, um ihm alles über den schönen Ausflug durch die Lüfte zu erzählen.